Friedrich Merz: Kommt Deutschlands "Adenauer-Moment" noch diese Woche?
Blutiger Krieg im Osten, Handelskrieg mit den USA – und Deutschland taumelt regierungslos. Umfragen signalisieren Verunsicherung. Doch noch diese Woche soll die Koalition stehen. Mit „Merzbeil“-Überraschung und Erinnerung an 1950.

Konrad Adenauer war glasklar gegen eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Im Wahlkampf 1949 formulierte er das christlich-pazifistische Programm der CDU mit großer Deutlichkeit, so am 4. Dezember 1949 gegenüber der Deutschen Presse-Agentur: „In der Öffentlichkeit muss ein für alle Mal klargestellt werden, dass ich prinzipiell gegen eine Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland und damit auch gegen die Errichtung einer neuen deutschen Wehrmacht bin.“ Wenige Monate nach seinem Wahlsieg machte Adenauer genau das Gegenteil – er leitete die Wiederbewaffnung ein, die in der Gründung der Bundeswehr und dem Beitritt zur Nato mündete. Adenauer revidierte nicht nur seine Haltung, er stürzte die CDU in eine tiefe Akzeptanzkrise, heftige Proteste erschütterten die junge Republik, Bundesinnenminister Gustav Heinemann trat 1950 aus Protest zurück und zwei Jahre später aus der CDU aus.
Adenauer vollzog eine historische Kehrtwende, steckte dafür gewaltige Kritik ein und bewies am Ende doch nur den Mut, sich der Geschichte zu stellen. Denn 1950 brach der Koreakrieg aus, die sozialistischen Diktaturen, allen voran die Sowjetunion, waren mit Krieg und Gewalt auf brutalem Expansionskurs. Adenauer sah sich zu Wende und Widerstand gezwungen und die Geschichte sollte ihm recht geben.
Merz geht es heute wie Adenauer
Siebzig Jahre später wiederholt sich das Muster. Der CDU-Vorsitzende und designierte Bundeskanzler Friedrich Merz wollte weder Megaschulden noch die größte Aufrüstung Deutschlands noch den größten Handelskrieg seit einer ganzen Generation. Doch die Ereignisse in Russland, der Ukraine und den USA zwingen ihn nicht bloß zu einer Korrektur, sie zwingen ihn zu einer Riesenwende. Wie Adenauer muss auch Merz dafür einen Sturm der Kritik ertragen. Pazifisten und Rechtspopulisten attackieren ihn als Kriegstreiber, Linke schimpfen ihn Lügner und Wortbrecher, die AfD schmäht ihn als Umfaller und SPD-Knecht, war doch die Schuldenbremse soeben noch das Tafelsilber der CDU.
Aber mit dieser Woche könnte sich die Stimmung ändern. Die Koalitionsverhandlungen stehen – so hört man es von Insidern – kurz vor dem Abschluss. „Wir brauchen keine 72 Stunden mehr. Dann werden wir Deutschland überraschen“, raunt einer der Verhandler. Offenbar haben Union und SPD in wesentlichen Punkten „echte Durchbrüche“ erzielt. Deutschland erwarte demnach eine „klare Migrationswende“. Zugleich werde es sicherheitspolitisch eine Neudefinition im europäischen Kontext geben. Die SPD hebt den „historischen Durchbruch“ bei der Staatsfinanzierung durch die gewaltigen Sondervermögen hervor. In der Union kursiert das Wort vom „Adenauer-Moment“: Jetzt werde Grundsätzliches für die Republik neu festgeschrieben. Die CDU-Verhandler verweisen auf eine Wirtschaftswende und Bürgergeldreform – auch dort sollen große Veränderungen anstehen.
Es soll eine „Koalition von Aufräumern“ werden
Sowohl bei SPD als auch bei CDU und CSU keimt plötzlich leiser Optimismus. Insbesondere die Verhandlungsführer Friedrich Merz und Lars Klingbeil hätten einen guten Weg zueinander gefunden. Jeder wittere im anderen zwar den cleveren Machtpolitiker, den Konkurrenten, auf den man misstrauisch aufzupassen habe. Doch zugleich hätten beide aneinander auch den Charakterzug der Verlässlichkeit entdeckt, der pragmatischen Vernunft und der Diskretion. Dass seit Tagen nichts an die Öffentlichkeit gelangt ist, wird weithin als positives Zeichen gewertet. Das Ergebnis wird unter Verhandlungskreisen nun scherzhaft „Merzbeil“ gerufen, „weil es wuchtig ist“.
Die Verhandler berichten, dass in den Runden das Bewusstsein entstanden sei, gemeinsam eine „Koalition von Aufräumern“ zu formieren. Tatsächlich hatten sowohl Merz als auch Klingbeil schon in ihren Parteien einiges aufzuräumen, der eine das Merkel-Erbe, der andere das Scholz-Erbe, und eigentlich war das sogar das gleiche. Und beide fühlten früh – bereits bei ihren persönlicheren Begegnungen auf den Ludwig-Erhard-Gipfeln der letzten Jahre – den gewaltigen Aufräumbedarf in Deutschland. Merz wie Klingbeil folgen nun einem Leitbild, das auf dem Tegernsee-Gipfel vor einem Jahr formuliert wurde: „Deutschland braucht jetzt Bessermacher statt Besserwisser.“
Das zielte gegen die Grünen ebenso wie gegen Populisten, aber auch gegen die Naivität in den jeweils eigenen Reihen, dass man in Deutschland schon irgendwie weiter wurschteln könne wie bisher. Beide Protagonisten tragen die Überzeugung in sich, dass Deutschland dringend wieder auf die Beine kommen müsse, um nicht endgültig in die Hände von Extremisten zu fallen. Dieses Bewusstsein eint.
Und so nehmen beide – wie weiland Adenauer – auch eine bittere Last der Revision auf sich, weil sie es für ein zukunftsfähiges Deutschland schlichtweg machen müssen. Klingbeil revidiert die Migrations- und Bürgergeldpolitik, Merz die Schuldenbremse. Die gewaltige Schuldenaufnahme ist Merz genauso zuwider, wie es die Wiederbewaffnung für Adenauer war. Doch Merz handelt – ebenfalls wie Adenauer – aus der Einsicht, dass Deutschland jetzt ein neues Gehäuse seiner Sicherheit braucht, eine Art europäische Nato. Deutschland muss sich gegen Russland rüsten und sich zugleich von den USA emanzipieren. Das Land steht vor einem zweiten Adenauer-Moment.